Rede des Preisträgers zur Verleihung des Stephanus-Sonderpreises 2024

Apr 19, 2024 | Meldungen, Stephanuspreis-Ansprachen

Gegham Stepanyan, Ombudsmann für Menschenrechte/ Arzach

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen, meine Damen und Herren,

wenn ich mich heute an Sie wende, bin ich von überwältigender Dankbarkeit erfüllt. Trotz der allgemeinen Enttäuschung und Frustration ist es inspirierend zu sehen, dass es in anderen Teilen der Welt Menschen gibt, die stets für Gerechtigkeit und Menschenrechte eintreten und die Werte der Menschlichkeit, Freundschaft und Solidarität wertschätzen. Ich bin dankbar für die Anerkennung, die uns die geschätzte Stephanus-Stiftung zuteilwerden lässt, für die unerschütterliche Wertschätzung, die dem unermüdlichen Einsatz des Büros des Ombudsmanns in Arzach entgegengebracht wird. Mit tiefer Demut nehme ich diese Ehre im Namen aller Menschen entgegen, die ihr Leben dem Streben nach Gerechtigkeit und Menschenrechten trotz aller Widrigkeiten gewidmet haben.

Das vergangene Jahr war eine der herausforderndsten Zeiten in der Geschichte von Arzach. Im September 2023 wurde unser Heimatland einem brutalen und unprovozierten Angriff Aserbaidschans ausgesetzt, einem brutalen Angriff, der 230 Menschen das Leben kostete, darunter 21 Zivilisten. Tragischerweise kamen bei der Explosion in einem Treibstoffdepot am 25. September in der Nähe von Stepanakert weitere 238 Menschen ums Leben. Wie bei der Aggression im Jahr 2020 griff Aserbaidschan wahllos zivile Gemeinden, zivile Infrastruktur und Kulturstätten an. Die schiere Brutalität dieser Angriffe zwang die gesamte Bevölkerung von Arzach, ihre Häuser zu verlassen, in Armenien Zuflucht zu suchen und auf der Suche nach Sicherheit und Geborgenheit alles zurückzulassen, was ihnen lieb und teuer war. Es ist das erste Mal in seiner jahrtausendelangen Geschichte, dass Arzach ohne seine indigene armenische Bevölkerung dasteht, was ein tragisches und beispielloses Kapitel in den Annalen des Kampfes unseres Volkes um Überleben und Selbstbestimmung kennzeichnet.

Darüber hinaus erlebte Arzach vor der Vertreibung eine erschütternde, zehnmonatige Blockade, die am 12. Dezember 2022 begann. Diese Blockade, die sich durch ihre Brutalität und Schwere auszeichnete, verursachte unter der Zivilbevölkerung unsagbares Leid. Lebenswichtige Güter, darunter Nahrungsmittel, Medikamente und Treibstoff, wurden zu knappen Gütern, was die ohnehin schon schwierige Situation noch verschlimmerte. Die Blockade verletzte nicht nur die grundlegenden Menschenrechte der Menschen in Arzach, sondern verschärfte auch die humanitäre Krise in der Region. Während dieser Tortur hat das Büro des Ombudsmanns in Arzach unermüdlich daran gearbeitet, diese Verstöße zu dokumentieren und der internationalen Gemeinschaft vorzulegen, Licht auf die Ungerechtigkeiten zu werfen, die unserem Volk angetan wurden, und dringende Interventionen zur Linderung unseres Leids zu fordern. Alle diese Gräueltaten waren Teil der systematischen Kampagne Aserbaidschans zur vollständigen ethnischen Säuberung von Arzach. Was in Arzach geschah, wurde von mehreren angesehenen Experten, darunter dem Gründungsstaatsanwalt des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, als Völkermord bezeichnet. Ja, es handelt sich um einen Völkermord, dessen Anstifter und Organisatoren auf internationaler Ebene zur Rechenschaft gezogen werden müssen.Inmitten des Chaos des Exodus und der Verwüstung waren die Menschen in Arzach mit unvorstellbaren Härten konfrontiert. Unter der Androhung physischer Zerstörung mussten wir unsere Häuser verlassen und begaben uns auf eine tückische Reise voller Gefahren und Ungewissheit. Viele mussten anstrengende Fahrten in überfüllten Fahrzeugen über sich ergehen lassen, ohne die Garantie, ein sicheres Ziel zu erreichen. Tragischerweise forderte der Exodus das Leben von mehr als 60 Menschen, die Opfer der erbarmungslosen Umstände waren, die sie ertragen mussten. Mittlerweile liegt die Gesamtzahl der gewaltsam Vertriebenen aus Arzach bei 150.000, eine erschütternde Zahl, die sowohl diejenigen einschließt, die im Jahr 2020 vertrieben wurden, als auch diejenigen, die infolge der Aggression im Jahr 2023 gezwungen waren, Arzach zu verlassen.

Die nach Armenien geflohenen Arzach-Flüchtlinge kämpfen mit einer Vielzahl von Herausforderungen. Viele sind mit der harten Realität unzureichenden Wohnraums konfrontiert, oft zusammengepfercht in überfüllten Notunterkünften oder provisorischen Behausungen. Überfüllte Quartiere und von der armenischen Regierung bereitgestellte Notunterkünfte sind oft ihre einzige Option. Manche sind möglicherweise gezwungen, das Zimmer mit mehreren Familien zu teilen, was zu einem stressigen und ungesunden Wohnumfeld führt.Grundbedürfnisse wie Lebensmittel, Kleidung und Hygieneartikel sind oft Mangelware. Viele Flüchtlinge sind zum Überleben auf humanitäre Hilfe angewiesen, die uneinheitlich sein kann und nicht ausreicht, um den Bedürfnissen aller gerecht zu werden. Der Zustrom von Vertriebenen hat die ohnehin begrenzten Ressourcen Armeniens erheblich belastet und es schwierig gemacht, alles Notwendige bereitzustellen.Über die unmittelbaren körperlichen Bedürfnisse hinaus wiegt das emotionale Trauma der Vertreibung schwer. Wir haben Gewalt und Verlust erlebt, die emotionale Narben hinterlassen und deren Heilung Zeit braucht. Die plötzliche Entwurzelung aus unseren Häusern und Gemeinschaften stört unser Zugehörigkeits- und Sicherheitsgefühl. Viele leiden unter Angstzuständen, Depressionen und Trauer und haben nur begrenzten Zugang zu psychiatrischen Diensten, um diese Probleme anzugehen. Die Arbeitssuche stellt eine große Hürde dar, die zu finanzieller Unsicherheit und einem Gefühl der Hilflosigkeit führt. Die Unfähigkeit, für die Familien zu sorgen, verstärkt den allgemeinen Stress und die Verzweiflung vieler Flüchtlinge.Die größte Herausforderung ist das Fehlen einer klaren Zukunft. Flüchtlinge sehnen sich danach, in ihre Häuser in Arzach zurückzukehren, doch die politische Lage bleibt ungeklärt. Diese Unsicherheit führt zu einer enormen emotionalen Belastung und erschwert eine langfristige Planung. Wir fühlen uns verletzlich und verunsichert darüber, was vor uns liegt.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, das Büro des Ombudsmanns von Artsakh bleibt seinem Engagement für die Menschen in Artsakh treu. Auch ohne angemessene finanzielle Mittel und Finanzierung setzen wir unsere wichtige Arbeit an mehreren wichtigen Fronten fort.Erstens schärfen wir das Bewusstsein für die immensen Herausforderungen, denen sich die nach Armenien geflohenen Arzach-Flüchtlinge gegenübersehen. Armenien tut mit seinen begrenzten Ressourcen alles, was möglich ist, aber die Belastung ist immens. Wir fordern die internationale Gemeinschaft dringend auf, sich zu engagieren und den Arzach-Flüchtlingen mehr humanitäre Hilfe zu liefern. Zweitens setzen wir uns unermüdlich für das Rückkehrrecht der vertriebenen Arzach-Bevölkerung ein. Dieses Grundrecht ist im Völkerrecht verankert und seine Verwirklichung ist für einen gerechten und dauerhaften Frieden von wesentlicher Bedeutung. Wir fordern die internationale Gemeinschaft auf, dieses Recht zu wahren und sicherzustellen, dass die Menschen in Arzach unter internationalem Schutz in ihr angestammtes Land zurückkehren können.Drittens ist die Erhaltung des armenischen Kulturerbes in Arzach einer ernsthaften Bedrohung ausgesetzt. Der aserbaidschanische Vandalismus gegen Kirchen, Denkmäler und andere historische Stätten ist ein offensichtlicher Versuch, die armenische Identität in der Region auszulöschen. Wir brauchen dringend internationale Mechanismen, um weitere Zerstörungen zu verhindern und den Schutz dieses unersetzlichen religiösen und kulturellen Erbes zu gewährleisten.Schließlich stellt die anhaltende Inhaftierung armenischer Kriegsgefangener (POWs) und Geiseln, darunter acht Vertreter der politischen und militärischen Führung von Arzach, einen groben Verstoß gegen das humanitäre Völkerrecht dar. Ihre sofortige und bedingungslose Freilassung ist ein entscheidender Schritt zur Wiederherstellung des Vertrauens und ebnet den Weg für eine friedliche Lösung des Konflikts.

 Liebe Kolleginnen und Kollegen,

die ethnische Säuberung der Armenier aus Arzach ist ein eklatanter Beweis dafür, dass es der internationalen Gemeinschaft nicht gelingt, die Grundsätze des Völkerrechts und der Menschenrechte zu wahren. Hätten alle Beteiligten diese Grundsätze befolgt, hätte diese Tragödie verhindert werden können.

Jetzt kann die Welt vor dem Leid der Arzach-Bevölkerung nicht die Augen verschließen. Um diese Ziele zu erreichen, bedarf es der kollektiven Kraft aller, die an die Menschenrechte glauben. Wir brauchen die Stimmen derer, denen andere am Herzen liegen und deren Weltanschauung auf Gerechtigkeit und Menschlichkeit basiert.

Hier kommen angesehene Organisationen wie die Stephanus-Stiftung ins Spiel. Wir rufen die Freunde der Stephanus-Stiftung auf, sich uns in diesem Kampf anzuschließen. Gemeinsam können wir das Bewusstsein schärfen, uns für Gerechtigkeit einsetzen und Maßnahmen von der internationalen Gemeinschaft fordern. Nur durch eine einheitliche Front können wir den Menschen in Arzach eine gerechte und würdige Zukunft sichern.

Ich fühle mich wieder einmal geehrt, dass Sie unsere Bemühungen anerkennen. Ihr Lob ist für mich und das gesamte Büro des Arzach-Ombudsmanns eine starke Motivation. Dies sind in der Tat schwierige Zeiten, aber wir bleiben in unserem Engagement für den Schutz der Menschenrechte und unserem Eintreten für die Menschen in Arzach standhaft. Wir danken Ihnen sehr für Ihre Unterstützung und wünschen Ihnen weiterhin viel Erfolg bei Ihren eigenen Unternehmungen. Lassen Sie uns gemeinsam nach einer Zukunft streben, in der Gerechtigkeit und Menschlichkeit vorherrschen.

 Dankeschön!

20. April 2024 – Arbeitsübersetzung Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen

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