Am 1. Jänner 2024 hat das christliche Karabach, die de facto-Republik Artsach, aufgehört zu existieren. 2000 Jahre armenische Geschichte wurden von der Karte des Südkaukasus gelöscht.
Im Verlauf des 44 Tage Kriegs im Herbst 2020 hat ein Großteil der Armenier Artsach verlassen. 48.649 davon sind in Armenien geblieben, über 100.000 sind im Laufe des Jahres 2021 wieder zurückgekehrt, voller Hoffnung, voller Zuversicht und mit einem unbändigen Willen und Mut, Karabach wiederaufzubauen. Doch es kam anders. Ende September 2023 sind diese 100.000 Menschen, nun kraftlos, entmutigt und beraubt jeglicher Hoffnung auf Rückkehr aus Artsach vertrieben worden. Armenien hat sie liebevoll, voller Geduld und Hingabe aufgenommen, Platz geschaffen, in leerstehenden Wohnungen und Häusern, in Hotels und Studentenheimen. Mittlerweile haben einige Tausend Armenien Richtung Europa, USA und Russland verlassen, sind zu Verwandten und Bekannten ausgewandert. Einige Tausend haben bereits in Armenien in Fabriken, im Baugewerbe, im Dienstleistungssektor und im Schulbereich Arbeit gefunden, für einige wurden Stellen an Universitäten und Hochschulen geschaffen. 21.000 Kinder wurden eingeschult. Doch Armenien ist überfordert, Hilfe wird an allen Ecken und Ende benötigt, und es ist schwierig, den entwurzelten Menschen, die zum Großteil einfache Bauern sind, eine Perspektive in Armenien zu geben. In einem Land, das sich selbst von Aserbaidschan vehement bedroht fühlt.
Ein Blick zurück
Der Herbst 2020 veränderte die geopolitischen Verhältnisse in der Region Südkaukasus nachhaltig. Der unbarmherzig geführte Krieg um die etwa 11.500 km2 kleine, international nicht anerkannte Republik Artsach forderte in 44 Tagen Tausende von Opfern, und versetzte durch den am 9. November 2020 für Armenien und Artsach nachteilig ausgehandelten Waffenstillstand unter russischer Vermittlung die Menschen in Armenien in eine Art Schockzustand und Lethargie, eine tiefe Hoffnungslosigkeit, der sie bis heute kaum entkommen konnten. Was auch durch die immer wiederkehrenden Aggressionen Aserbaidschans verhindern wurde, durch ständige Grenzscharmützel seit 2021, im Juli und September 2022 durch massive Angriffe auf armenisches Staatsgebiet. Trotz Waffenstillstand. Den Armeniern, die in den verbliebenen Teil ihrer de facto Republik Artsach 2021 zurückgekehrten, wurde kaum Gelegenheit gegeben, ihre Wunden zu heilen. Ständige Bedrohung und schließlich die ab 12. Dezember 2022 menschenverachtende Blockade der einzigen Zufahrtsstraße von Armenien nach Artsach, des Latschiner Korridors, durch – wie offiziell von Aserbaidschan betont – aserbaidschanische Umweltaktivisten. Monatelang fehlende Versorgung mit Gas, Wasser, Wärme, Lebensmittel und Medizin. Unterbindung armenischer, aber auch internationaler Hilfslieferungen und von Krankentransporten durch das Internationale Rote Kreuz. Schließung von Schulen, Kindergärten und Arbeitsplätzen. Das öffentliche Leben kam zu erliegen, die Geschäfte waren leer. Ausgezehrte und hungernde Menschen, Landwirtschaft ohne Wasser und Saatgut. Ein rapides Ansteigen von Fehlgeburten und Abtreibungen. Im Mai trocknete der größte Stausee Artsachs, Sarsang aus. Am 25. Juli rief der Präsident von Artsach wegen akuten Mangels an lebensrettenden Medikamenten, Hygieneartikeln und Babynahrung den Katastrophenzustand aus.
Menschenverachtung, blinder Hass, unbarmherzige Gewalt, vieles schien sich in der Geschichte Armeniens zu wiederholen. Der Genozidalarm wurde tatsächlich am 22. Juni 2023 durch das renommierte Lemkin-Institut ausgelöst. Es wurde auch in den internationalen Medien laut über Genozid gesprochen.
Jenseits der Grenze beobachtet seit 10. Oktober 2022 eine zivile EU-Mission, ab 23. Jänner 2023 eine Überwachungsmission der Europäischen Union. Im Februar 2023 forderten das Europäische Parlament und Amnesty International zur unverzüglichen Aufhebung der Blockade auf. Am 22. Februar verlangte der Internationale Gerichtshof den ungehinderten Verkehr durch den Latschin-Korridor; am 1. Juni 2023 setzte sich UNICEF im Namen der Kinder von Artsach für ein Ende der Blockade ein. Der UN-Sicherheitsrat wandte sich am 7. August 2023 an Aserbaidschan, die Blockade aufzuheben. Nichts geschah.
Am 19. September 2023 startete Aserbaidschan völlig unvorhergesehen eine Militäroffensive im nordöstlichen Artsach. Am 20. September nahmen aserbaidschanische Streitkräfte das Kloster Amaras und strategisch bedeutende Höhenlagen ein, das Militär von Artsach wurde entwaffnet. Dieser Blitzangriff setzte eine Fluchtwelle aus den Dörfern in Richtung Hauptstadt Stepanakert in Bewegung, zum Hauptquartier der russischen Friedenstruppen unweit des Stepanakerter Flughafens. Am 28. September unterzeichnete der Präsident von Artsach die Kapitulation. Der Exodus setzte ein. Innerhalb nicht ganz einer Woche verließ die gesamte armenische Bevölkerung Karabach. 100.625 Personen, darunter etwa 30.000 Kinder. Die Menschen haben mitgenommen, was sie in der Eile mitnehmen konnten. Sie haben ihre Häuser, Tiere, ihre Felder und Gärten, das von ihren Händen bearbeitete Land zurückgelassen. Sie haben die Gräber ihrer Vorfahren, ihre Kirchen und Klöster zurückgelassen. Artsach hat mit 1. Jänner dieses Jahres aufgehört zu existieren. 2000 Jahre Geschichte, hundertjährige christliche Geschichte wurde einfach ausgelöscht.
Das christliche Artsach
Vertraut man den lokalen Traditionen, so wurde der Hl. Grigoris, Enkelsohn des Hl. Gregor des Erleuchters, in die östlichste Region des armenischen Königreichs, nach Artsach, entsandt. Gregor der Erleuchter hat König Trdat bekehrt und getauft, auf seine Mission hin nahm Armenien als erstes Land der Welt im Jahre 301 das Christentum als Staatsreligion an. Der Hl. Grigoris missionierte als erster Bischof von Artsach auch die nordöstlich angrenzenden Regionen von Utik und Kaukasisch- Albanien, das von einer Vielzahl kaukasischer Völker bewohnt. Er fand jedoch einen frühen Märtyrertod und wurde 338 in jener Kirche bestattet, die sein Großvater in Amaras errichten hatte lassen. Just in diesem Kloster Amaras gründete fast hundert Jahre später der Hl. Mesrop Maschtots, der Erfinder des armenischen Alphabets, die erste armenische Schule. Es galt, nicht nur armenischen Kinder der östlichsten armenischen Provinz das Alphabet, die Schriftsprache und die bereits bis Mitte des 4. Jahrhunderts ins Armenische übersetzte Bibel zu lehren, sondern auch beizutragen, das Christentum in dieser Region zu festigen. Artsach ist somit eine der frühesten Regionen der Weltgeschichte, in der das Christentum offiziell Fuß gefasst hatte und in Schulen gelehrt wurde.
Während des Hochmittelalters erlebte Artsach trotz ständiger Einfälle fremder Völker, von Seldschuken, Mongolen bis hin zu den verheerenden Eroberungszügen des Turkmenen Tamerlan im 14. Jahrhundert eine wahre Blütezeit. Die Fürsten von Artsach waren sogar mit den Mongolen verbündet. In dieser Zeit wuchs Artsach nicht nur zu einem bedeutenden Pfeiler armenischer Kultur, sondern zum wichtigsten östlichen Zentrum des armenischen Christentums heran. Artsach schrieb fortan mit dem Kirchensitz von Gandzasar unter der bedeutenden Adelsfamilie der Dschalaljan Kirchengeschichte. Bis ins Jahr 1836 beherbergte das Kloster Gandzasar die östliche Diözese der armenischen Kirche. Die Annexion der Region im Jahre 1805 durch das Russische Zarenreich läutete das Ende der Eigenständigkeit der Artsacher Fürsten und der armenischen Kirche ein. Im Jahr 1914 hatte die Diözese Karabach 222 arbeitende Kirchen und Klöster mit 188 Geistlichen und 206.000 Gemeindemitgliedern, die in 224 armenischen Siedlungen lebten. Nach dem Ersten Weltkrieg veränderte sich alles. Am 5. Juli 1921, wurde Karabach auf Intervention Joseph Stalin dem sowjetischen Aserbaidschan überlassen. 1923 wurde infolgedessen die Autonome Region Berg-Karabach (NKAO) innerhalb der Aserbaidschanischen SSR gegründet. Die Diözese Karabach wurde 1930 aufgelöst, die armenischen Priester wurden an Ort und Stelle getötet oder nach Sibirien ins Exil geschickt. Der Atheismus zog ins christliche Artsach. Doch selbst die Jahrzehnte andauernde sowjetische, atheistische Indoktrination konnte das Christentum in Artsach nicht ausrotten, nicht zum Schweigen bringen. Noch vor dem Ausbruch des Ersten Karabachkrieges, am Vorabend der Auflösung der Sowjetunion, konnte die armenische Kirche in ihren Klöster Amaras und Gandzasar wieder offiziell religiöse Tätigkeiten aufnehmen. 1989 wurde die armenische Diözese Artsach neu gegründet, Pargew Martirosyan zum Diözesanbischof ernannt. Am 1. Oktober 1989, nach Jahrzehnten bedrohlicher Stille, wurde wieder eine armenische Liturgie in Artsach gefeiert. Die Jahre bis zum zweiten Krieg 2020 waren eine richtiggehende Renaissance der armenischen Kirche in Artsach. Erst der Waffenstillstand 2020 veränderte die Diözese nachhaltig: der Kirchensitz Schuschi und die im Krieg bombardierte Kathedrale des Allerlösers gingen mit dem ganzen Süden Artsachs verloren. Das bedeutende armenische Kloster im Norden Artsachs, der Wallfahrtsort und das Heiligtum Dadivank wurde zu einer armenisch-christlichen Enklave auf aserbaidschanischem Boden, von russischen Friedenssoldaten von außen und einer kleinen Schar von Diakonen und einem Priester im Innern bewacht. Mit dem Exodus im September 2023 verließ auch der Klerus Artsach. Nach einer Bischofssynode im Sitz der armenischen apostolischen Kirche von Edschmiatsin im November 2023 wurde beschlossen, die Diözese Artsach bestehen zu lassen.
Doch was geschieht mit dem Kulturerbe?
Das kleine christliche Artsach ist mit einem dichten Netz von Kirchen und Klöstern durchzogen, viele davon sind älter als jene in Armenien, viele sind weitaus älter als unsere, europäischen Kirchen.
Durch den Verlust von Artsach sind heute bedeutende, historische Zeugen des frühen armenischen Christentums nicht mehr in christlicher Hand, schlimmer noch, sie sind für Armenier, auf längere Sicht nicht mehr zugänglich. Verwaist und verlassen, und ohne Schutz sind sie der Willkür des neuen Machthabers überlassen, der, wie internationale Berichte belegen, nicht davor scheut, sie zu zerstören, umzuwandeln und zu verändern. Armenier erinnern sich zu Recht an die Zwischenkriegszeit 1994-2020, in der Artsach und seine Kirche von neuem erblühte, während die armenische Kultur im Westen von Aserbaidschan, in Nachitschevan, völlig ausgelöscht wurde. Nachitschevan war ebenfalls ein jahrhundertealtes armenisches Siedlungsgebiet, mit einem Netz aus mittelalterlichen Kirchen, Klöstern und armenischen Dörfern. Der Friedhof von Dschulfa, im iranisch-armenisch-aserbaidschanischen Grenzgebiet mit tausenden mittelalterlichen Kreuzsteinen wurde völlig zerstört. Aserbaidschan hat in Nachitschevan nachweislich in der Zeit von 1960 bis 2008 an die 28.000 registrierte, armenische Kulturdenkmäler zerstört und damit sämtliche steinernen Zeugen armenischer Existenz und Geschichte in dieser Region quasi ausradiert. Zurück blieben Bilder, Fotos, Erinnerungen und – Gottlob, Handschriften. Ähnliches droht nun Artsach.
4.000 registrierte Kulturdenkmäler sind ungeschützt, darunter etwa 300 Kirchen und Klöster, Hunderte mittelalterlicher Kreuzsteine und Grabsteine, aber auch archäologische Stätten, Festungen und Fürstenpaläste, Brücken und historische Wohnhäuser, von Museen gar nicht zu sprechen. Verwaist. Ungeschützt. Und unerreichbar. Nur aus dem Himmel beobachten Satelliten und die wachsamen Augen eines Professorenteams der amerikanischen Cornell Universität, Caucasus Heritage Watch. Und sie bestätigen Beängstigendes: Seit Beginn des CHW-Überwachungsprogramms 2021 wurden insgesamt 44 bedrohte, zerstörte oder beschädigte Stätten dokumentiert, das sind 16 % des derzeit überwachten Kulturerbebestands: sieben Baudenkmäler völlig dem Erdboden gleichgemacht, darunter zwei Kirchen aus dem 17. und 18. Jh., zwei Friedhöfe mit mittelalterlichen Grabsteinen. Die rezenten Zerstörungen zielen auf armenische Friedhofe, im letzten Berichtszeitraum, Juli bis Dezember 2023, waren sowohl in verschiedenen Dörfern neuere Grabsteine (vor allem aus dem 1. Karabachkrieg) aber auch zwei der historischen Friedhöfe der Stadt Schuschi betroffen. Das Professorenteam der Cornell-University schreibt am Beginn seines letzten Berichtes, erschienen im Jänner 2024, „Das eskalierende Ausmaß der Zerstörung sollte jeden, der sich um die Erhaltung zerbrechlicher und unersetzlicher Reste der menschlichen Vergangenheit kümmert, zutiefst beunruhigen.“[1]
Wir sollten beunruhigt sein, ja. Wegen der vertriebenen Menschen aus Karabach und ihren Problemen und Ängsten um ihr Heute und Morgen. Wegen des scheinbar unwiederbringlichen Verlustes einer christlichen Region. Wegen der drohenden Vernichtung und Entfremdung jahrhundertealten, christlichen Kulturerbes. Und wegen der Unberechenbarkeit des totalitären aserbaidschanischen Regimes, das den Blick auf Südarmenien geworfen hat.
Univ.Doz. Dr.DDr. h.c. Jasmine Dum-TragutBakk.rer.nat.
[1] Anmerkung: Seit dem gestrigen Tag 19.04. ist bewiesen, dass sowohl die „Grüne Kirche“, die Johannes-Kirche aus dem 19. Jahrhundert als auch der bis ins Mittelalter zurückreichende Friedhof von Schuschi völlig dem Erdboden gleich gemacht wurden. (Satelliten Caucasus Heritage Watch)