Libanon
Zeichen der Zuversicht in Zeiten der Dauerkrise
Die Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen und der Libanon
Nirgends sonst in einem arabischen Land leben Christen in so großer Zahl in Frieden unter ihren muslimischen Nachbarn, seien sie schiitisch oder sunnitisch, wie im Libanon. Das Land der Zedern gilt zudem als eines der freiesten in der arabischen Welt. Bis ins 20. Jahrhundert hinein stellten Christen dort mit über 50 Prozent die Mehrheit dar, genauer gesagt 53 Prozent bei der letzten offiziellen Volkszählung 1932.
Während des Bürgerkriegs zwischen 1975 und 1990 sank ihr Anteil auf ein Viertel der Gesamtbevölkerung. Gegenwärtig gehen Schätzungen davon aus, dass vier von zehn Libanesen christlich sind. Wie in den letzten Jahren wiederholt Anschläge vor Augen geführt haben, ist die Stellung der christlichen Gemeinschaft hart umkämpft und daher fragil. Seit rund einem Jahrzehnt besucht die Vorsitzende der Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen, Michaela Koller, das Land der Zedern regelmäßig.
Die Bindung zu dem Land mit seinen mehr als sechs Millionen Einwohnern entstand durch den Träger des Stephanus-Sonderpreises von 2018, Professor Samir Khalil Samir. Der ägyptische Jesuitenpater hatte während des Bürgerkriegs an der Universität Saint Joseph im Viertel Achrafiyya das Zentrum für christliche arabische Literatur CEDRAC aufgebaut. Außerdem bestanden Kontakte zu maronitischen, syrisch-orthodoxen und melkitisch griechisch-katholischen Christen und ihren kirchlichen Repräsentanten, zu Konfessionen, die inmitten der Vielfalt im Libanon zur gesellschaftlichen Realität gehören.
Nahe des Märtyrerplatzes in Beirut finden sich noch Spuren des Bürgerkriegs wie diese Ruine eines Wohnhauses, das im Bürgerkrieg unter Beschuss stand. Die Innenstadt wurde in neuem Glanz errichtet, modern-arabesk, zeigt sich der einstige Kriegsschauplatz in trotziger Eleganz.
Zu viele Herausforderungen für ein kleines Land
Der Bürgerkrieg, der 2011 in Syrien entbrannte, forderte bislang schon einen hohen Tribut von den Nachbarländern. Schätzungen zufolge fanden bis zu 1,7 Millionen Syrer Aufnahme im Libanon, der damit weltweit pro Kopf die meisten Flüchtlinge in seinen Grenzen beherbergt. Die libanesische Wirtschaft und Infrastruktur sind damit überlastet. Mit dem Ausbruch des Kriegs verloren die Libanesen einen wichtigen Absatzmarkt und die gesetzlich verbotene Arbeitssuche von Geflüchteten drückte zugleich das Lohnniveau herunter, mit Ausbeutung und weiterer Armut als Folgen. Die Lebenshaltungskosten blieben zugleich hoch. Angebote für Gesundheit und Bildung konnte der Staat schon vor dem Krieg nur unzureichend gewährleisten. So überraschte nicht, dass die ersten Anfragen um Hilfe an die Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen Krankenhausrechnungen und Schulgebühren betrafen.
Viele Flüchtlinge leben unter harten, kaum auszuhaltenden Bedingungen: Hunger, im Sommer Hitze und im Winter strenge Kälte fordern einen hohen Preis; in einigen Fällen kostete dies Flüchtlingen das Leben. Die Zahl der Opfer wäre ohne die beachtliche Unterstützung mit Spenden sowie Hilfslieferungen von Waren des täglichen Bedarfs weitaus höher.
Der Zustrom ereignete sich vor dem Hintergrund politischer Krisen, nicht zuletzt verursacht durch weit verbreitete Korruption und den beständigen Versuch von außen, die politisch-strategische Beeinflussung auszuweiten. An dieser Stelle sei an die pro-syrische und pro-iranische, schiitische Miliz und Partei Hisbollah erinnert, die schon in mehreren Kabinetten der Regierung in Beirut vertreten war und den Revolutionsführer in Teheran als ihre höchste geistliche Autorität betrachtet.
Die große Explosion
Am 4. August 2020 kam es in Beirut zu einer Explosion von mehreren tausend Tonnen Ammoniumnitrat, die im Umkreis mehrerer Kilometer Verwüstung anrichtete: Mehr als 200 Menschen verloren ihr Leben, mehr als 6.500 wurden verletzt. Die Detonation zerstörte die Wohnung hunderttausender Menschen oder nahm ihnen ihre Jobs.
Nach der Verwüstung kam die Seuche
Durch das Chaos in der Gesundheitsversorgung breitete sich das Corona-Virus rasant aus. Anfang 2021 befand sich das Land der Zedern im weltweit wohl strengsten Lockdown, in dem nicht einmal Lebensmittelgeschäfte zum Einkaufen öffneten. Zwischenzeitlich war der Sauerstoff für die Intensivbehandlung knapp geworden, so drastisch ist die Zahl der Infektionen gestiegen.
Zu aller Bedrängnis zeigen sich die Folgen der Bankenkrise von 2019 zunehmend drastischer: die Preise für Dinge des täglichen Bedarfs haben sich vervielfacht. Inzwischen leben noch mehr Libanesen in Armut als noch vor Ausbruch der COVID-19-Pandemie.
Unterstützung Überlebender
Manale Saab von der befreundeten Initiative „Sharing is Caring“ aus Beirut schrieb in einer flehentlichen E-Mail, ausländische Nichtregierungsorganisationen möchten bitte die Probleme an der Wurzel anpacken. Die Opfer der Explosion brauchten psychologische sowie finanzielle Hilfe. Saab erklärte, dass die öffentliche Hand im Libanon am Wiederaufbau scheiterte. Sie erhoffte sich vor allem nachhaltige Hilfe, damit die Menschen wieder für sich selbst sorgen können und somit einen Teil ihrer Würde wieder zurückbekommen. Sie zeigt sich dankbar für die Schritte, die „Sharing is Caring“ Hilfsbedürftige vorwärts bringen kann. Seit 2020, mit dem Beginn der Corona-Pandemie, kooperiert die Stephanus-Stiftung mit ihrer Organisation. Gemeinsam konnten wir armen Familien helfen und „etwas Liebe verbreiten“, wie Manale es formulierte. Am 15. März 2023 schrieb sie via WhatsApp: „Wir sind dankbar für die Hilfe, besonders angesichts dessen, was hier vor sich geht.“
Auswanderungsdruck lastet auf den Christen im Zedernland
Obwohl sie in ihrer Heimat wenigstens frei und sicher leben – anders als etwa in Syrien oder im Irak – sehen viele christliche Familien angesichts der Wirtschaftslage und anhaltender Klientelpolitik nur noch durch die Auswanderung eine Chance für die Zukunft. „Die Krise betrifft vor allem die Christen. In ihren Vierteln gehen die Mieten nach oben, nachdem die Häuser die Besitzer wechseln. Viele Christen verkaufen ihr Eigentum und wandern aus“, erklärte Manale Saab von „Sharing is Caring“. Es treten ihr zufolge muslimische Investoren an deren Stelle, die mit harter Währung zahlen könnten. „Man muss kein Fanatiker sein, um sich über den daraus folgenden demographischen Wandel der Viertel Sorgen zu machen“, fuhr sie fort.
Michaela Koller befragte auch den melkirisch-katholischen Erzbischof von Sidon, Elie Béchara Haddad, über die massive Auswanderungswelle christlicher Libanesen: „Wir gelten für die Christen hier in der Region als Festung, da wir im Libanon noch politisch mitreden können“, In den vergangenen drei Jahren seien aber rund 400 Familien aus seinem Bistum ausgewandert, Richtung Europa, Nordamerika und Australien.
Johanna-Chusa-Ausbildungsfonds hilft Christinnen im Libanon
„Für die, die zurückbleiben, ist es deprimierend zu sehen, wie immer mehr Glaubensgeschwister das Land verlassen“, berichtete auch Penelope Boujaoude vom Hilfswerk „Flamme de Charité“. Die Stephanus-Stiftung unterstützt sie dabei, Zeichen der Zuversicht zu setzen: Gemeinsam mit „Flamme de Charité“ hat die Stiftung im Rahmen der Förderung aus dem Johanna-Chusa-Ausbildungsfonds insbesondere die jüngeren Leute wie die 18-jährige Marie C. im Blick. Sie müssen in Bildung investieren, um ihre Zukunft selbstständig meistern zu können. Marie, ihre zwei Schwestern und ihre Eltern gehören zu den Familien, die die Stephanus-Stiftung seit 2022 unterstützt. Sie müssten sich sonst mit den kargen Einkünften begnügen, die der Vater als Taxifahrer – ein Beruf im Niedriglohnsektor – mit nach Hause bringt. Da Maries Schwestern wegen ihrer Hirnschädigung ständig pflegebedürftig sind, kann Mutter Caroline nicht zum Einkommen beitragen. Für die Ausbildung ihrer 18-jährigen Tochter, die gerne die Hotelfachschule besuchen würde, fehlt das Geld. „Die Gebühren sind hier mit rund 400 US-Dollar jährlich noch relativ überschaubar. Doch angesichts der Not ist der Betrag für viele Eltern dennoch nicht zu stemmen“, erklärte Boujaoude.
Von 2016 bis 2021 unterstützte die Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen das Fratelli Project der Maristenbrüder und La Salle Schulbrüder in der Ecole St. Vincent de Paul in Bourj Hammoud, nahe des Armenierviertels in der libanesischen Hauptstadt Beirut. Alles begann mit dem 13-jährigen Iraker Nazir. Bei einem Besuch im Libanon fiel er der Stiftungsvorsitzenden Michaela Koller auf, weil er so jung schon ausgezeichnet Englisch beherrschte und sich bald als echte Leseratte entpuppte. Nicht allein seine Sprachbegabung, sondern auch seine bewegende, ja dramatische Geschichte hatten ihm in jungen Jahren die Welt der englischen Literatur erschlossen – eine heile Welt, in der er sich flüchtete.
Nazir erzählte beim Tee in Beirut, was ihm als Kind einer chaldäischen Familie in Bagdad widerfahren war: „Dreimal haben sie meinen älteren Bruder mitgenommen und jedes Mal schlimmer misshandelt. Beim dritten Mal fanden wir ihn blutüberströmt auf der Straße.“ Der Bruder musste nach dem Tod des Vaters die Rolle des Ernährers übernehmen und fand beim US-Militär einen passabel bezahlten Job. So war er bei den Islamisten noch verhasster als ohnehin schon als Christ. Nazir selbst, so berichtete er, entführten Islamisten, als er „vier oder fünf Jahre alt“ war. Bei diesem Verbrechen und der Gewalt gegen seinen Bruder sollte es nicht bleiben: Die Islamisten drangen schließlich in die Wohnung der Familie ein, setzten ihn und seinen Bruder in Brand: „Schauen Sie auf meine Hände, die sind verbrannt“, fuhr er fort, sie dabei ein Stück weit auf dem Tisch seinem Gegenüber entgegenstreckend. Die Familie floh in den Libanon, aber Nazir wagte sich dort nicht in die Schule – aus Angst vor Repressalien Andersgläubiger. Die staatlichen Schulangebote sind nun einmal konfessionell gemischt.
Von einem Freund des chaldäischen Patriarchen von Babylon, Louis Raphael I. Kardinal Sako, Stephanus-Preisträger von 2011, erfuhr Michaela Koller von einem Projekt, das solche traumatisierten Kinder in die libanesische Gesellschaft eingliedert, ihnen eine Brücke zu einer Chance baut, die sie in ihren Herkunftsländern nie oder lange nicht hatten. Sie fuhr nach Champville, einem kleinen Ort in den Bergen oberhalb der libanesischen Hauptstadt, wo sie Bruder Miquel Cubeles traf und ihm von Nazir berichtete und seine Aufnahme vorbereitete.
Das Fratelli Project
Seit 2014 waren rund 30.000 Iraker nach Beirut gekommen. Sein Mitbruder Andrés und er entschlossen sich, jungen Menschen mit einem Unterrichtsprogramm in ein neues Leben jenseits der Kriegsgefahren zu verhelfen. Seit Anfang des Jahres 2016 hatte sich das Projekt in Bourj Hammoud bereits bewährt: Jeden Morgen ab 8.30 Uhr kamen rund 60 Kinder und Jugendliche bis zum späten Nachmittag. Sie hatten durch Terror, Krieg und Flucht wertvolle Zeit für ihre Bildung verloren und frischten nun Schulwissen auf, lebten ihre Kreativität beim Malen und Zeichnen aus und erlebten so, sich über dramatische Erlebnisse auszutauschen und diese auf diese Weise aufarbeiten zu können.
Zugleich versetzten sie die Pädagogen und Freiwilligen in die Lage, etwas Erbauliches zu schaffen sowie die Kontrolle darüber zu behalten. Die vielen Gemälde, die Michaela Koller bei ihrem ersten Besuch in dem Zentrum sah, erzählen von der Flucht und der irakischen Heimat. Sie ließ gleich Geld für die Malfarben da.
„Wieder haben Sie uns Ihre Liebe und Unterstützung bewiesen, indem sie für das Fratelli Project hier im Libanon gespendet haben. Wir danken Ihnen von ganzem Herzen für Ihre Hilfe und Ihr Gebet, die Sie uns widmen, damit wir in der Lage sind, dieses Projekt in dieses schöne und erstaunliche Land zu tragen, das von verschiedenen Problemen und besonders jetzt durch die Detonation heimgesucht wurde, die sich am 4. August 2020 ereignete….Wir schätzen Ihre Großzügigkeit und Initiative, und wir bitten Gott und Maria, Sie in Ihrem täglichen Leben zu segnen, Ihnen dabei jedes Gute, das Sie für Jesus leisten und weiterhin tun werden, durch die von ihm Geliebten, die Ärmsten und die Menschen in Not, hundertfach vergelten mögen.“ Team des Fratelli-Projekts, September 2020
Bruder Juan Carlos Fuertes vom Fratelli-Projekt schrieb uns schließlich: „Die Mehrheit der Iraker, die bei uns Zuflucht gefunden hatten, sind inzwischen nach Europa, Kanada und in die USA ausgewandert.“