„Es gibt andernfalls keine Zukunft“
Gespräch über die Situation der Christen im Irak mit dem chaldäisch-katholischen Patriarchen Louis Raphael I. Sako aus Bagdad
Bis zur Verständigung, erst recht zur Versöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen im Irak, ist es noch ein weiter Weg. Patriarch Louis Raphael Kardinal Sako spricht im Interview mit Michaela Koller, Vorstandsvorsitzende der Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen, klar vom Versagen des Staates auf nationaler, aber auch auf regionaler und örtlicher Ebene: Korruption, Milizen und andere Unruhestifter, radikale Lehren, die Hass und Gewalt schüren, selbst schon im Schulunterricht, stellen Stolpersteine dar. Um das drohende Ende der Jahrtausende währenden christlichen Geschichte aufzuhalten, ist politischer Wille zur Durchsetzung weitreichender Reformen nötig.
Im Herbst 2017 hat die Mehrheit der Kurden für die Unabhängigkeit ihrer Region im Nordirak votiert. Wie könnte sich eine Anerkennung der Unabhängigkeit Kurdistans auf die Christen auswirken?
Ziel des Referendums der Kurden war es, ihren eigenen Staat zu haben, eine vollständige Autonomie. Die irakische Zentralregierung ist dagegen, so auch der Iran, die Türkei, Syrien. Wir sind besorgt darüber. Die Spannungen könnten so zunehmen und wir befürchten, es könnte ein weiterer Krieg ausbrechen. Krieg ist immer schlecht, gerade für die Christen und andere Minderheiten, die in jedem Krieg reichlich gelitten haben. Das wäre wirklich das Ende der Christenheit in dieser Region, aber auch in anderen Stätten, die damit hineingezogen würden. Wir hoffen nun auf einen Dialog im Interesse einer gewaltfreien Lösung.
Ich verstehe, aber sehen Sie denn eine Chance auf ein Zusammenleben unter den verschiedenen Religionsgruppen in der Region des nördlichen Irak?
Im gesamten Irak, aber auch in anderen Ländern, existiert ein neues Phänomen, das der sektiererischen Kultur oder Mentalität, eine Art von Fundamentalismus zwischen Sunniten und Schiiten, Christen und Muslimen, Kurden und Arabern und so weiter. Und das ist wirklich schlecht. Das sind wir nicht gewohnt. Der Irak war 35 Jahre hindurch säkular. Wenn wir zum Zusammenleben in Harmonie zurückkehren möchten, müssen wir unsere Einstellung ändern, unsere Mentalität, unsere Kultur und auch die Unterrichtsprogramme. Zum Nutzen aller sollte die internationale Gemeinschaft dafür sorgen, dass die Christen bleiben. Wenn ich mir die Qualitäten der Christen dort anschaue, so komme ich zu dem Schluss, dass sie die Muslime dabei unterstützen können, ihren Horizont zu erweitern und etwas anderes als ihre eigene Welt kennenzulernen.
Trennung von Religion und Staat – Idee der gleichen Bürgerrechte
Was ist sonst noch außer Bildung notwendig, um Frieden und Stabilität wieder herstellen zu können?
Das Problem besteht darin, dass seit vielen Jahrzehnten die Kultur aus Gewalt, Racheakten, Krieg, Morden und Zerstörung besteht. Uns fehlt die Kultur, die Sie seit 70 Jahren in Europa haben. Jeder ist bei ihnen frei, aber diese Freiheit bedeutet auch, Verantwortung zu tragen und andere nicht zu verletzen. Wir müssen von Ihrer Erfahrung profitieren. Möglicherweise ist das einzige hilfreiche Projekt die Idee der Bürgerschaft (die Idee der Gleichheit vor dem Gesetz, Anm. d. Red.). Es existierte so eine Idee der Bürgerschaft für jedermann bei uns nicht, ebenso wenig wie die Trennung von Religion und Staat. Die Religion verfolgt Interessen, die unveränderlich sind. Ich denke, die Verknüpfung von beiden Sphären sollte allmählich verschwinden.
Die Terrororganisation IS ist immer noch im Irak. Meinen Sie nicht, dass es hilfreich wäre, die Verbrecher vor Gericht zu bringen?
Ich halte das für einen Wunschtraum. Geografisch verliert ISIS an Macht, aber die Ideologie gewinnt an Einfluss. Um diese Weltanschauung zu bekämpfen, müssen alle Menschen zusammenarbeiten. Die erste Verantwortung liegt bei den Muslimen selbst. Sie müssen ihre Glaubenslehren erneuern, die junge Generation darin unterrichten und über die Fehler oder vielmehr Mentalität von ISIS und anderer fundamentalistischer Gruppen belehren. Es gibt andernfalls keine Zukunft.
Wäre es hilfreich, wenn die westliche Welt das, was den Christen widerfahren ist, als Genozid brandmarken würde?
Für uns bestand der Völkermord darin, dass sie unsere Erinnerung, unser Erbe, unsere Lebensgrundlagen auslöschten und unser Land nahmen. Das gesamte Gedächtnis, das 2.000 Jahre zurückreichte, war betroffen: Sie brannten unsere Kirchen nieder, zerstörten Klöster und historische Bauten. Dies war kein physischer Genozid wir für andere, wie für die Jesiden.
Wie kann der Westen die Christen dort unterstützen?
Sie sollten den Irak dazu bringen, eine neue Verfassung einzuführen. Um einen starken Staat aufzubauen, darf ausschließlich die Armee bewaffnet sein, und keine Milizen. Sicherheit ist das, was wir vor allem benötigen. Das liegt in der Verantwortung der internationalen Gemeinschaft, insbesondere der USA, weil sie hinter den Regimewechsel in der Region stecken.
Vielen Dank für Ihre Antworten, Eure Seligkeit.