Vor dem historischen Papstbesuch: Welche Zukunft hat der Irak?
Emanuel Youkhana, Erzdiakon der Assyrischen Kirche des Ostens
Direktor von CAPNI (Christian Aid Program Northern Iraq),
im Gespräch mit Michaela Koller, Vorstandsvorsitzende der Stephanus-Stiftung für verfolgte Christen
Übersetzung des englischen Originalinterviews auf unserem Youtube-Kanal. Wörtliche Formulierungen wurden teilweise leserfreundlich angepasst.
Guten Tag, Pfarrer Emanuel Youkhana. Willkommen in Wiesbaden, in Hessen. Sie haben Ihren festen Sitz in Dohuk. Ich bin im vorigen Jahr das letzte Mal in die Region gereist. Ich war erfreut, einiges an Hoffnung vorzufinden, so etwa in Telskuf. Dies ist das Ergebnis von Unterstützung zum Beispiel seitens der Regierung Ungarns sowie einiger regierungsunabhängiger Organisationen, die den Wiederaufbau und damit die Rückkehr der Christen in diesen hauptsächlich oder zu 100 Prozent christlichen Ort gefördert haben.
Ja, zu 100 Prozent christlich ist Telskuf.
Ich war froh, dies zu sehen, alles, darunter eine große neue Kirche, die mit sehr viel Eleganz gestaltet ist. Lassen Sie uns aber über die gesamte Region sprechen, die Ninive-Ebene und auch überhaupt die christlichen Siedlungen. Wie schreitet der Wiederaufbau dort voran?
Guten Abend, Michaela. Ich danke Ihnen für dieses Interview, durch das ich die gesamte Stiftung grüßen möchte, den Vorstand und auch Ihre Freunde und Unterstützer. Sie waren im Irak, in Dohuk und auch in der Ninive-Ebene. Daher freuen wir uns schon darauf, Sie dort wiederzusehen. Wir hoffen darauf im nächsten Jahr, wenn die Corona-Pandemie hoffentlich weltweit bewältigt sein wird. Es ist stets gut, Menschen zu empfangen, die ihre Solidarität und ihre Betroffenheit gegenüber ihren christlichen Geschwistern, die in solchen Konfliktzonen leben, zum Ausdruck bringen. Die materielle Hilfe kann in diesem globalen Dorf leicht geliefert, gehandhabt und umgesetzt werden, aber gleichfalls wichtig ist es, dass die Menschen persönlich dorthin kommen. Wenn ich als Pfarrer oder der Bischof oder andere Repräsentanten des Klerus eine Gemeinde regelmäßig besuchen, ist dies nichts Neues. „Okay, der Abuna [arabisch für Pfarrer; Anm. d. Red.] ist wieder da“, so sagen sie.
Aber wenn Menschen wie Sie aus Deutschland, Skandinavien oder Übersee kommen, um christliche Familien oder die Kirche dort zu besuchen, sagen sie: „Aha, wir sind nicht vergessen. Da gibt es Menschen, die an uns denken, die für uns beten und hierherkommen, um etwas mit uns zu teilen.“ Dieses Zeichen und diese Praxis der Solidarität bedeutet Hoffnung für die Bevölkerung, dass sie nicht allein gelassen ist. Daher sage ich es nochmals: Sie sind sehr herzlich willkommen und eingeladen, im nächsten Jahr zu uns zu kommen, Ihre Schwesterkirche zu besuchen, ob in Telskuf, in Alquosh oder in Dohuk.
Um auf die derzeitige Situation zurückzukommen: Wenn wir auf die Ninive-Ebene zu sprechen kommen, dann reden wir über eine Landschaft, die durch reiche Vielfalt, durch Diversität gekennzeichnet ist. Da sind zum einen die Christen, dann auch die Jesiden, Schabaken, Kurden, Araber und Kakai. So ist es ein sehr nettes Mosaik. Unglücklicherweise wurde durch den IS dieses Gefüge zerbrochen. Und die Zerstörung, die der IS verursachte, geht über den materiellen Schaden hinaus. Der materielle Verlust ist leichter wiedergutzumachen. Wir müssen uns jedoch auf den sozialen Zusammenhalt, die allseitige Teilhabe am alltäglichen Zusammenleben, konzentrieren. Der Wiederaufbau der Häuser und der Kirchen ist sehr viel weiter fortgeschritten, aber was uns immer noch fehlt, ist der Lebensunterhalt. Die Menschen sagen: „Vielen Dank, dass Sie mir beim Wiederaufbau meines Hauses geholfen haben. Sie haben die Kirche und die Schule wiederaufgebaut, aber was geschieht mit der Wirtschaft und mit unserer Lebensgrundlage?“ Wir konzentrieren uns darauf, unsere Landsleute mit Jobs zu versorgen, besonders die junge Generation. Das ist sehr wichtig. Ich wende mich dazu an die örtliche Kirche, internationale und lokale Bürgerinitiativen. Und zusammen leisten wir unser Bestes, um für die Menschen die Hoffnung greifbar zu machen. Für uns Christen ist dies etwas sehr Nettes: Wir sind Kinder der Hoffnung, leben in ihr und teilen diese. Aber die Hoffnung geht über eine gute Predigt und freundliche Worte hinaus. Sie muss verwirklicht werden. Und dazu sind wir da.
Das greift schon in meine nächste Frage über. Diese bezieht sich darauf, was die Christen dort benötigen, um langfristig eine Zukunft im Irak zu haben. Die Frage der Rückkehr ist das Eine. Eine andere Herausforderung ist es, zu bleiben…
Unglücklicherweise leiden die Christen im gesamten Nahen Osten. Sie fühlen sich vielfach diskriminiert, im Iran, im Irak und in Syrien sowieso, wo sie sogar verfolgt werden. Leider emigrieren, ja flüchten viele, die die Hoffnung verloren haben. Leider können wir ein besonders wichtiges Moment nicht wiederherstellen, das ist die christliche Demographie. Wir müssen die Rolle der Christen erneuern. Das ist sehr wichtig, um sie mit ihren Partnern zusammenzubringen: Christliche Bildung, christliche Schulen, die allen Gemeinschaften dienen, christliche Gesundheitszentren und Krankenhäuser sowie regierungsunabhängige Organisationen. Das wird die christliche Gemeinschaft im Ansehen bei anderen Gemeinschaften voranbringen. Dadurch wächst ihre Rolle, ihr wird mehr Respekt entgegengebracht und sie kann darauf stolz sein und somit optimistischer in die Zukunft blicken.
Es gibt inzwischen drei Kategorien von Christen: Es gibt einen Prozentsatz von Familien, die sich dazu entschlossen haben zu fliehen und andere, die entschieden haben, für immer dort zu bleiben, weil sie da ihre Geschichte, ihre Wurzeln und ihre Zukunft sehen. Und dazwischen sitzen diejenigen, die noch keinen Entschluss gefasst haben. Das ist ganz wichtig. Wir zielen auf diese Menschen ab, um ihnen zu vermitteln, dass sie bei uns eine Zukunft haben können. Die jungen Leute bilden die Mehrheit dieser Kategorie. Es sind diejenigen, die im Begriff sind, ihr Universitätsstudium abzuschießen und keine Arbeit in Aussicht haben. Diese Menschen müssen wir unterstützen.
Wenn Sie das nächste Mal in den Irak kommen, werden Sie im Hotel übernachten, weil sie dort kein Haus haben. Und dies ist das, was ich immer sage: Wenn sich unsere Leute erst einmal im Irak zu Hause fühlen, werden sie nicht mehr versuchen, das Land zu verlassen, um Hotels in Skandinavien oder sonst in der Diaspora zu suchen. Und dies ist unsere Aufgabe, die keine leichte ist, vielmehr ist sie kompliziert. Unsere Aufgabe ist es, die Christen fühlen zu lassen, wieder daheim angekommen zu sein. Wir geben unser Bestes in der humanitären Hilfe, um für das Auskommen zu sorgen oder beim Wiederaufbau von Kirchen und Schulen und so weiter. Jedoch ist die größte Herausforderung die Sicherheit. Es ist der Kirche nicht möglich, dafür zu sorgen, auch nicht den Bürgerinitiativen. Das ist die größte Herausforderung für die Christen in Mosul und in der Ninive-Ebene. Das nächste Weihnachtsfest wird schon das Siebte sein, zu dem keine Glocken in Mosul erklingen.
Sogar jetzt, da Mosul wieder zurückerobert wurde, ich rede nicht von Befreiung, weil das viel mehr bedeuten würde, kehren christliche Familien nicht wieder dorthin zurück. In der gesamten Gesellschaft, im täglichen Leben, fühlen sie sich nicht willkommen. Die Christen verlieren an Boden in der Stadt Mosul und auch Tel Keppe. Hingegen in Telskuf sowie in Alqosh, überall in der Region Kurdistan läuft es fein. Dort gibt es andere Probleme finanzieller Natur oder auch jetzt durch Corona, aber vom Sicherheitsaspekt her weniger. Aber eine Herausforderung erleben wir auch in Bartella und Karakosh – wegen der schiitischen Milizen der Schabaken. Sie nutzen ihre Macht, kontrollieren die Gegend militärisch und werden durch den Iran sowie schiitische Parteien politisch und finanziell unterstützt, um Jobs und den Markt zu übernehmen. Also gibt es dort großen Druck auf die Christen. Es ist dort wie die Frontlinie in einer Schlacht, eine Schlacht um den Wandel der Demografie in Bartella und Karakosh.
Es ist sehr traurig, dies zu hören. Können Sie uns auch einen Überblick über die Situation der Christen im übrigen Irak verschaffen? Wie sieht es dort aus?
Nun, die christliche Präsenz im Irak konzentriert sich vor allem auf die Region Kurdistan und die Ninive-Ebene. Natürlich haben wir auch in Bagdad Christen, 30.000 bis 40.000. Dabei sprechen wir aber von einer Acht-Millionen-Stadt. So sind wir doch eine ziemlich kleine Minderheit dort. In dieser komplizierten Situation dieser MENA-Region (Mittlerer Osten – Nordafrika) mit internen Konflikten und dem Einfluss aus dem Ausland gibt es für Christen als Akteure keinen Platz. Wir sind nicht auf der Tagesordnung der Regierung aufgelistet. Sie haben genug zu tun: für die Sicherheitslage mit Blick auf die Milizen, mit dem Einfluss des Iran im Irak, den US-amerikanisch-iranischen Spannungen und mit der Wirtschaftskrise. Der Irak ist schließlich sehr vom Ölexport abhängig. Und es kommt nun noch COVID-19 hinzu. Und ganz unten auf der Liste stehen die nichtmuslimischen Minderheiten wie die Christen und Jesiden – unglücklicherweise. Sie sind in keiner guten Lage. Lassen Sie mich es so sagen: Nun sind mehr als sechs Jahre seit der Katastrophe mit dem IS vergangen. Aber glauben Sie mir: Bis jetzt hat es noch keine nationale Debatte darüber gegeben, was geschehen ist, warum es passiert ist, wie das vorkommen konnte und wie es hätte verhindert werden können. Daher denken die Menschen, dass die Regierung sich nicht darum sorgt.
Dem liegen doch viele Ursachen zugrunde….
Ja. Wenn man es noch deutlicher sagen will: Die irakische Regierung ist mehr darüber besorgt, die arabischen Sunniten für sich zu gewinnen, die den Hintergrund für den IS darstellen, als die Opfer des IS zu überzeugen. Zum Beispiel: Vor zwei Tagen haben sie einen der Kader gefasst – kein Anführer, aber auch kein kleiner Fisch – der 32 christliche Inschriften aus einer Kirche gestohlen und sie in seinem Haus versteckt hatte. Jetzt sind schon vier Jahre seit [der Rückeroberung aus der Gewalt, Anm. d. Red.] des IS vergangen und noch immer war so ein hochrangiger Anhänger dort in Mosul. Daher fühlen sich die Menschen verunsichert. Der einzig sichere Ort ist (die Autonome Region) Kurdistan und ein Teil der Ninive-Ebene. Sie müssen wissen, dass die Ninive-Ebene aus zwei Teilen besteht, ein Teil unter der Kontrolle der irakischen Regierung sowie schiitischer Milizen und ein Teil unter der Kontrolle der Kurden und der Peschmerga.
Lassen Sie uns über CAPNI sprechen, das Christliche Hilfsprogramm für den Nordirak. Sie haben es bereits 1993 gegründet, was sehr lange Zeit zurückliegt. Wie reagieren Sie auf die Herausforderungen, die Sie zuvor beschrieben haben?
CAPNI ist die Abkürzung für Christian Aid Program Nohadra Iraq. Nohadra ist der christlich-assyrische Name der Stadt Dohuk. Für Jahrhunderte war dies eine christliche Region. Die Organisation wurde dort gegründet. Sie haben recht, wir wurden 1992 als Initiative gegründet und 1993 dann offiziell anerkannt. Die Gründung erfolgte nach dem Golfkrieg. Es herrschte damals eine ähnliche Situation. Eine Million Menschen waren wegen des Kriegs zur türkischen Grenze geflüchtet. Dann erklärten die Vereinten Nationen die Region Kurdistan für eine sichere Zone. Die Flüchtlinge kehrten zurück und es folgte das internationale Embargo gegen den Irak, gegen die Zentralregierung, aber es traf auch Kurdistan. So hatten sie zwar die Chance zur Rückkehr, aber keine Ressourcen. Das war dann der Anstoß zur Gründung von CAPNI: Wir wollten den Menschen helfen, ihr Leben wieder aufzubauen und in ihre Dörfer zurückzukehren. Wir haben als sehr kleine karitative Organisation begonnen. Wir sind eine von wenigen, vielleicht die Einzige in Dohuk, die die Arbeit damals begonnen hat und dann bis heute weiterarbeitet und wächst.
Es ist eine lange Geschichte, aber ich werde sie angesichts der vielen Phasen, die wir hatten, kurzfassen. Die erste Phase endete zehn Jahre später, im Jahr 2003, als (Diktator, Anm. d. Red.) Saddam Hussein gestürzt wurde. In dieser Phase durften wir nur in der Region Kurdistan tätig sein, in anderen Gebieten des Irak war dies nicht erlaubt. Unser Dank gilt den Kirchen in Deutschland und deutschen Organisationen, die die großen Unterstützer von CAPNI waren und sind. Hier beziehe ich mich auf beide Familien [gemeint sind Konfessionsgemeinschaften, Anm. d. Red.], die katholische Kirche und auch die lutherische, ob als Kirchen oder Einrichtungen wie Misereor, Caritas, Kindermissionswerk, Kirche in Not, die Diakonie, Brot für die Welt. Sie waren und sind dankenswerterweise unsere Partner. Von 2003 bis 2014, als der IS aufkam, erstreckte sich im Irak ein Machtvakuum. Christen und andere Minderheiten wurden zur Zielscheibe in anderen Teilen des Irak. Sie flohen aus Bagdad, aus Basra und anderen großen Städten in die Ninive-Ebene, weil sie dort sicher waren, da dieses Gebiet von den Peschmerga kontrolliert wurde.
Wir hatten zum ersten Mal Zugang zur Ninive-Ebene, nachdem Saddam Hussein gestürzt worden war. Wir haben uns auf dieses Gebiet konzentriert, um Leben zu retten, humanitäre Güter, Nahrungsmittel, Hygieneartikel et cetera zu liefern sowie zum Unterhalt und zur Bildung beizutragen. Dann, als der IS aufgekommen war, begannen wir damit, uns auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge zu konzentrieren.
Es ist sehr wichtig, hier zu wissen: In der ersten Augustwoche 2014, in nur einer Woche, als der IS am 4. August zum Sindschargebirge und am 6. August in die Ninive-Ebene vordrang, wuchs Dohuk von einer Bevölkerungszahl von 1,3 Millionen auf zwei Millionen an. Rund 700.000 Vertriebene suchten Schutz in der Provinz von Dohuk. Somit war jeder Dritte ein Flüchtling. Das bedeutete, dass wir viel zu tun bekamen.
Gott sei Dank und dank unserer Partner in Deutschland, die uns tatkräftig unterstützten, konnten wir auf die Bedürfnisse der Flüchtlinge eingehen: Leben durch Operationen retten, Nahrungsmittel und Hygienebedarf und sogar Kleidung liefern. Viele, die geflohen waren, hatten nichts mehr. Dann haben wir uns dauerhafterer Programme angenommen wie Bildung oder einfach Räume für die Kinder. Später dann, im Jahr 2017, als der IS in diesen Gebieten besiegt wurde, kehrten die Ersten zurück, wie Sie das in Telskuf gesehen haben. Sie kamen und fragten, wo sie leben sollten: „Mein Haus ist abgebrannt worden“. Oder: „Mein Haus wurde beschädigt“, so hörten wir. Einige Häuser waren teilweise zu Schaden gekommen, wieder andere ganz zerstört worden. So war der Fokus 2017 für CAPNI, den Menschen die Rückkehr zu ermöglichen.
In der Folge haben wir 1.432 Häuser in der Ninive-Ebene wieder aufgebaut und 1.500 renoviert, ebenso 34 oder 35 Schulen und mehr als zehn Kirchen. Aber die Bedürfnisse gehen darüber hinaus, denn es geht auch um den Lebensunterhalt, darum zu leben, zu überleben. So konzentrieren wir uns nun darauf, der Bevölkerung zu helfen, Arbeit zu finden, ihre Geschäfte wieder aufzubauen, die vom IS abgebrannt oder wie auch immer zerstört wurden. Wir versuchen, die Menschen dabei zu unterstützen, ihre Firma wieder zu errichten, ob kleiner oder größer. Der jungen Generation bieten wir Berufsausbildung an, vermitteln Fertigkeiten und Kredite. Wir schätzen auch die große Hilfe der deutschen sowie der ungarischen Regierung, der Kirchen und anderer Organisationen, um den materiellen Schaden und die Folgen der Katastrophe zu beheben. Aber wir müssen uns auch die Wurzeln der Krise anschauen, sie ein für alle Mal lösen.
Was schlagen Sie vor?
Diskriminierung ist im Irak ein strukturelles Problem, in der Verfassung, in der Gesetzgebung und – was am entscheidendsten ist – in der Bildung. Ich nenne Ihnen ein sehr anschauliches Beispiel: Im Irak leben vier nichtmuslimische Minderheiten, die im Irak existierten, bevor der Islam kam. Daher stellen sie die irakische Urbevölkerung dar und gehören einheimischer Religionen an. Ich beziehe mich auf Juden, Mandäer (Anhänger Johannes des Täufers), Jesiden und natürlich Christen. Aber glauben Sie mir: Ein irakisches Kind kann mit der Grundschule beginnen, die weiterführende Schule und ein Universitätsstudium abschließen und sich zum Entscheidungsträger entwickeln, wie etwa ein Parlamentsabgeordneter oder in eine politische Führungsrolle gelangen und in all den Jahren seiner Ausbildung kommt kein einziger Satz – geschweige denn ein Kapitel – vor, in dem ihm diese vier Minderheiten vorgestellt werden. Wir wurden aus dem Gedächtnis der Bevölkerung ausradiert. Daher war es für den IS einfach, zu versuchen, uns physisch auszulöschen. Dies sind die Regeln: Wie kann man eine Gemeinschaft respektieren oder lieben, wenn man nicht weiß, wer sie überhaupt sind.
Verfassung, Gesetzgebung und die Curricula müssen erneuert werden, um eine neue Generation heranwachsen zu lassen, die sich ihres Landes, ihrer Nachbarn und Partner bewusst ist. Nun konzentrieren wir uns bei CAPNI darauf. Dank des Bildungsministeriums Kurdistans in Erbil, das aufgeschlossen ist, haben wir ein einjähriges Programm laufen, um die Curricula zu überarbeiten und alle Religionen und Gemeinschaften darin zu berücksichtigen. Diese Chance erhielten wir in Kurdistan, aber unglücklicherweise nicht in Bagdad, wo wir es auch versucht haben. Sie sind dort aber von fundamentalistisch-islamischen Gruppen beeinflusst. Das ist die Wurzel des Problems. Sie (die Minderheiten) werden nicht als Bürger anerkannt, weil der irakische Staat kein solches Staatsbürgerprinzip kennt. Sie werden nur als Anhänger einer Religions- oder Bekenntnisgemeinschaft identifiziert. Aufgrund dieser Einstufung sind Christen, Jesiden oder Kakai ganz unten. Daher gibt es Diskriminierung im alltäglichen Leben. Wenn Sie die Schulpläne betrachten, so ist alles islamisiert. Auch die Behörden sind dies und die Gesetzgebung fußt auf der Scharia (dem islamischen Recht; Anm. d. Red.). Das ist die Wurzel des Problems, dessen wir uns annehmen müssen.
Dankeschön, Pfarrer Emanuel, für dieses wirklich offene und aufschlussreiche Interview. Ich wünsche Ihnen nur das Beste für die Zukunft und dass alle Ihre Bemühungen reiche Frucht tragen. Ich danke Ihnen.
Ich danke auch der Stephanus-Stiftung. Den Namen Stephanus im Titel zu führen, ist eine Botschaft, ein Zeichen der Solidarität, des Mitfühlens mit dem Leid der Kirche und der Menschen. Daher danke ich für dieses Zeichen. Danke dafür, dass Sie die Aufmerksamkeit der Medien und der Öffentlichkeit wecken und die Stimme der Stimmlosen sind.