Träger des Sonderpreises der Stephanusstiftung 2018
Erzbischöfliches Palais Eichstätt, 21. Juli 2018
Archimandrit Dr. Andreas-Abraham Thiermeyer
Werte Festversammlung, hochgeehrter Herr Prof. DDr., lieber P. Samir!
Eine Laudatio hat eine doppelte Aufgabe: Sie soll Information über eine auszuzeichnende Persönlichkeit geben und gleichzeitig eine Begründung ihrer Würdigkeit für diesen Preis sein.
Gerne und dankbar habe ich diese Aufgabe des Laudators für Prof. DDr. P. Samir Khalil Samir S.J. angenommen: Er ist Jesuit, Priester, Theologe, Orientalist, Islamwissenschaftler, Professor, Päpstlicher Konsultor, gefragter Referent und Konferenzteilnehmer, Dialogpartner, Berater etc. und auch mein verehrter Lehrer. Sein Lebensweg und sein Lebenswerk werden uns seine Würdigkeit für diesen Preis aufzeigen und unsere dankbare Hochachtung vor unserem Preisträger bewirken.
Stationen seines Lebensweges
Samir Khalil Samir wurde am 10. Januar 1938 in Kairo geboren, er wuchs in der Nähe der jüdischen Synagoge auf. Mit sieben Jahren erklärte er seiner erstaunten Mutter, dass er Priester werden wolle. Die Mutter war aus Damaskus und griechisch-katholisch. Der Vater kam aus einer griechisch-orthodoxen Familie, wurde dann später katholisch. Mit 14 Jahren erlebte Samir, wie die britische Fremdherrschaft ihrem Ende entgegen ging: Im Januar 1952 begannen Plünderungen, Brandschatzungen britischer Einrichtungen durch Ägypter, die gegen die weitverbreitete soziale Ungerechtigkeit nach voller Souveränität in ihrem Land strebten. Am sog. „Schwarzen Samstag“, den 26. Jan. 1952, kamen über 60 Menschen ums Leben und viele wurden verletzt. Nach einem halben Jahr führten die Freien Offiziere unter ihrem General Abdel Nasser durch einen Staatsstreich einen Systemwechsel herbei. Nun wurden die Ägypter nach langer Zeit wieder von Ägyptern regiert. P. Samirs Vater hatte einen kleinen mittelständischen Betrieb und zwei Geschäfte für „englische Stoffe“. Im Zuge der Nationalisierung wurden diese Geschäfte 1956 verstaatlicht. Diesen Schicksalsschlag hat er aus Gram und Sorge nicht überlebt.
Der kleine Samir besuchte von 1943 bis 1955 die „Schule der hl. Familie“ in Kairo-Heliopolis. In dieser Zeit wuchs bereits sein Wunsch, Jesuit zu werden, ein Wunsch, den er im Alter von 17 Jahren umsetzte.
Am 6. Okt. 1955 war es soweit. Er fuhr vier Tage lang mit dem Schiff von Alexandria nach Marseille, und wie so oft war P. Samir zu früh da und wurde noch gar nicht erwartet. Mit diesem Tag seines Aufbruchs nach Marseille begann auch zugleich seine Bestimmung als „homo viator“. Bis heute ist er „ein Mensch unterwegs“. Sein Lebensweg führt ihn an immer wieder neue Stationen im Orient und im Okzident: an verschiedene Orte, mit verschiedenen Kulturen, Liturgien, Mentalitäten, in verschiedene Gemeinschaften mit verschiedenen Aufgaben und Sprachen. Mit 17 Jahren also trat er in Frankreich (Aix-en-Provence) in den Jesuitenorden ein und nahm von dort aus in Lyon das Studium der Philosophie, Theologie und Islamwissenschaften auf. P. Samir ging von dort für eine kurze Zeit auch ins niederländische Maastricht, um eine weitere neue Sprache zu lernen. Bereits ab 1957 wandte er sich schriftlich immer wieder nach Rom mit der Bitte, seinen Ritus ändern zu dürfen. Er sei doch Ägypter, habe die koptische Tradition kennen und schätzen gelernt und möchte der koptisch-katholischen Kirche angehören. Für ihn sei die Rituszugehörigkeit mehr als eine praktisch-liturgische Frage. Es gehe dabei um seine Identität. Antwort aus Rom: „Sie können ihre Entscheidung für den Ritus bei der Weihe hinzufügen!“ Es dauerte weitere zwei Jahre bis dem Rituswechsel in Rom zugestimmt wurde. In dieser Zeit vertiefte er seine Kenntnisse der koptischen Tradition und des Ritus weiter. Neben der Theologie studierte P. Samir intensiv griechische Philosophie und alles, was damals an einer westlichen Universität auf dem Lehrplan stand. Privat las er vor allem die arabischen Philosophen, insbesondere Avicenna und Averroes. Er bereitete dabei schon seine erste Dissertation über den großen arabischen Denker Al Ghazali (1058-1111) vor. Da er wie immer in überdurchschnittlich kurzer Zeit und mit Bestnoten sein Studium abgeschlossen hatte, konnte er jetzt auch promovieren. Dabei stellte P. Samir fest, dass er für sein Studium der antiken und mittelalterlichen Geisteswissenschaften die deutsche Sprache braucht, um die einschlägigen Werke der Philologen und Orientalisten von Weltrang studieren zu können. Im Sommer 1958 lieh es sich deshalb ein Deutschbuch aus. Der Provinzial, der es bemerkte, sagte zu ihm: „Bringen Sie das Buch wieder zurück. Was wollen Sie damit? Wir brauchen Sie für die Mission in Ägypten!“ Samir fügte sich. Und der Provinzial entschied, dass er lieber Englisch lernen sollte und schickte ihn für einige Zeit ins Heythrop College in Oxfordshire. Manchmal ist der Wechsel eines Oberen oder Vorgesetzten ein wahrer Segen für die Untergebenen. Und da P. Samir sich und seinen Zielen immer treu war, so war der Wechsel in der jesuitischen Leitung 1962 für ihn auch ein Segen. Der neue Provinzial, dem er seinen Wunsch bzgl. deutscher Sprache vortrug, sagte typisch jesuitisch: „Lernen Sie Deutsch so viel sie möchten, solange es kein Geld kostet!“ P. Samir, bis heute eine anspruchslose und unkomplizierte Persönlichkeit, zog sodann per Autostopp von Südfrankreich in Richtung München los. Es war August, alle Einrichtungen waren geschlossen. Er kam zunächst im Pullacher Berchmannskolleg (1925 von Augustin Bea SJ gegründet) unter. Alle waren in Ferien und er konnte mit niemandem sprechen. Außerdem war es langweilig im ländlichen Pullach, also besuchte er München. Auch die Umgebung der LMU kam ihm sehr ruhig vor. Doch schließlich betrat er den Ort, an dem sein Leben eine Wende nehmen sollte: Die Bayerische Staatsbibliothek. Zielstrebig suchte er dort die orientalische Abteilung auf, aber da war niemand. Endlich tauchte ein Benediktiner (P. Bernhard, Maria Laach) auf, der auf ihn zuging, da er auch eine Soutane trug. Er fragte Samir, was er mache. Er sagte, dass er über Ghazali arbeite. Er fragte ihn: „Warum Ghazali? Warum studieren die arabischen Christen immer nur den Islam und nicht die christlichen arabischen Denker?“ Samir konnte darauf nicht antworten. Wer sollten diese christlich-arabischen Denker sein? Als der Benediktiner wieder kam, legte er auf das Pult von P. Samir fünf dicke Bände: Georg Graf. Geschichte der christlichen arabischen Literatur (Vatikanstadt 1944-53), 2.400 Seiten. „Es war der 22. August 1962“, so P. Samir, „die Wende in meinem intellektuellen Leben!“
P. Samir verstand den deutschen Text in dieser Ausgabe noch nicht, war aber fasziniert von den vielen arabischen Titeln und Angaben und las alle angeführten arabischen Zitate. Schnell kam er zur Überzeugung, dass er sich diesem unerschöpflichen Reichtum der arabisch-christlichen Literatur aus 13 Jahrhunderten widmen müsse, und studierte Deutsch in unglaublicher Schnelligkeit.
Es wird in der Folge sein entscheidendes Verdienst, diese reiche Kultur des arabisch-christlichen Erbes dem Vergessen zu entreißen und immer wieder neu aufzuzeigen, wie intensiv der Austausch zwischen Christentum und Islam einmal war und auch heute noch sein könnte.
Aber bereits nach zwei Jahren musste er nach Ägypten zurückkehren. Er wurde zum Militärdienst gerufen. Auf dem Weg zur Kaserne war er in dem überfüllten Bus in Soutane als Priester erkennbar. Er kam mit einem Mann über seine Einberufung zum Militär ins Gespräch. Dieser fragte ihn: „Lebt Ihr Vater noch? Haben Sie Brüder?“ Als er erfuhr, dass der Vater gestorben und die Brüder emigriert sind, sagte er zu P. Samir: „Das ist gut, dann sie Sie derjenige, der für die Mutter sorgen muss, und Sie können nicht in die Armee!“ Sein Gesprächspartner war ein Offizier der Armee in Zivil, der mit ihm alles Weitere regelte: „Jemand kennenlernen, der wieder jemand kennt, der einen kennt…,“ das ist der Weg unseres P. Samir! Zufall oder Vorsehung? Oder das Zulächeln und Ein-Auge-Zudrücken Gottes?
Nun war P. Samir wieder für ein paar Jahre in Kairo, im mondänen Stadtteil Maadi, wo er im koptisch-katholischen Priesterseminar unterrichtete. Diese Gelegenheit nutzte er für das Studium der alten koptischen Handschriften im koptischen Museum und im koptisch-orthodoxen Patriarchat. Er exzerpierte, kopierte, schrieb Karteikarten ohne Ende und konnte auch das eine oder andere Original günstig erwerben.
Sieben Jahre lang musste er monatlich immer für einige Tage von Kairo nach Oberägypten fahren, um soziale Arbeiten zu leisten. Statt Schreibmaschine war dann Spitzhacke angesagt: Brunnen und Wasserkanäle anlegen. Da man bemerkte, dass er das Unterrichten doch besser kann, übertrug man ihm ein Alphabetisierungsprogramm für Erwachsene in Abendkursen. Dazu kamen Bildungsprogramme für Kinder in Kooperation mit der ägyptischen Regierung. 20 Lehrinstitute für Alphabetisierung gründete er.
P. Samir hatte aber nebenbei immer an seinem großen Ziel, eine christlich-arabische Bibliothek aufzubauen, weitergearbeitet. Sein Karteikartenarchiv in Kairo mit Dokumenten, Exzerpten, Kopien, einschließlich einer kleinen Handschriftenabteilung, war inzwischen schon auf 18.000 Exemplare angewachsen.
Doch am 8. Mai 1971 kam ein weiterer Schicksalstag für P. Samir: Während er sich bei einem ökumenischen Gespräch des Middle East Councils of Churches in Beirut aufhielt, brach in Kairo ein großes Feuer aus. Auch seine Bibliothek und alles, was er in jahrelanger Arbeit zusammengetragen hatte, wurde vernichtet. Er war ratlos und fragte sich, ob er vielleicht doch einen anderen Weg, einen anderen Dienst an einem anderen Ort angehen sollte: sozial, pastoral, wissenschaftlich? Er blieb aber in Kairo und lehrte weiter. Hinzu kam ab 1971 jährlich für zwei Monate ein Lehrauftrag an der St. Josephs Universität in Beirut über Christlich-Arabische Patrologie und an der maronitischen Hl. Geist-Universität in Kaslik für Orientalische Liturgie.
Im Jahre 1973, inzwischen war P. Samir 35 Jahre alt, erfuhr er über einen Aushang von Stipendien für orientalische Christen in Regensburg. Jetzt sah er wieder eine Chance, seine Deutschkenntnisse weiter zu vervollständigen. Nach einer Zusage von Regensburg reiste er zunächst nach Rom, um mit dem Jesuiten-General P. Arrupe zu sprechen. Samir wollte mit dem P. General abklären, ob eine karitative Tätigkeit nicht vielleicht doch sinnvoller sei als seine wissenschaftlichen Ambitionen, die eventuell erst in 50 Jahren Frucht bringen würden. Der Obere erbat sich fünf Minuten zur Besinnung, kniete sich in einer Ecke des Zimmers nieder und sagte dann zu P. Samir, die karitative Arbeit sei sicherlich wichtig, aber das könnten auch viele andere tun, die Arbeit für das christlich-arabische Erbe, in das er bereits so viel investiert habe, das könne sonst niemand leisten. „Und damit es in 50 Jahren genutzt werden kann, fangen Sie jetzt damit an“, so der Obere. Nun war für P. Samir wieder die Richtung klar: Auf nach Regensburg und Deutsch lernen!
Angekommen im Ostkirchlichen Institut in Regensburg, gab es allerdings ein jähes Erwachen aus der Euphorie. „Was, Jesuit sind Sie? Wenn Sie ein Jesuit sind, dann sind Sie kein Orientale!“ Auch die Erklärung, dass es in Ägypten eine kleine Minderheit unierter koptischer Katholiken gibt, half nichts. Man erklärte ihm, dass das Stipendium nur für Orthodoxe gelte. Es war ein schlimmer Augenblick für P. Samir. Er sagt über sich selbst: „Nur einmal habe ich in meinem Leben so geweint, das war damals in Regensburg“. Er wusste nicht, wie es weitergehen sollte. Man brachte ihn schließlich nach einigem Hin und Her im Priesterseminar unter. Niemand kümmerte sich aber um ihn. Er hatte Hunger und Durst und erst nach zwei Tagen zeigte ihm jemand den Speisesaal. Die Sprache unter all den Oberpfälzern und Niederbayern war schlimmer als Suaheli. Samir verstand kaum ein Wort. Ähnlich an der Universität. Nach einer zermürbenden und enttäuschenden Suche nach einer für ihn geeigneten Veranstaltung, ging er einfach in ein Kolloquium, wo auch andere Ausländer hingingen. Diese Veranstaltung leitete ein Professor, der sich den Fragen der meist südamerikanischen Studenten bzgl. der Befreiungstheologie stellte. Es war Prof. Joseph Ratzinger: Die erste Begegnung also mit dem, der ihn dann einige Jahrzehnte später als Papst Benedikt XVI. bat, vor den Studenten über den Islam zu referieren, und ihn 2009 zum Mitarbeiter für die Nahost-Sondersynode 2010 berief.
Die deutschen Sprachkenntnisse wuchsen rasant. Alles, was weiter folgte hatte wieder die berühmte Samir-Gangart: Jemanden kennenlernen, der jemand kennt, der jemand kennt … Dieses Mal war es der damalige Rektor des Pontificio Istituto Orientale (= P.I.O) in Rom, den er 1974 im Libanon kennengelernt hatte. Keine Frage, der Rektor war augenblicklich überzeugt, P. Samir ist unser Mann: „Wir benötigen genau jemanden wie Sie. Können Sie für ein paar Wochen zu uns kommen?“ Und aus einigen Wochen wurden einige Jahrzehnte. Am 12. Februar 1975 wurde P. Samir durch den nun neuen Rektor P. Eduard Huber (Urbayer!), an das P.I.O in Rom berufen, um in seinem Schwerpunkt, der arabisch-christlichen Literatur, zu forschen, zu lehren und zum zweiten Mal zu promovieren. Er war der erste, der am Orientale in Arabisch promovieren durfte, denn er wollte beweisen, dass Arabisch auch eine christliche Sprache sei.
Ihm, der ein Jahr zuvor noch vor einem vermeintlichen Scherbenhaufen gestanden hatte, gingen nun im P.I.O. die Türen zur besten Bibliothek, die es für den Christlichen Osten gibt, auf: „Dort fand ich alles, was ich suchte, ich war sooo froh!“, meinte P. Samir.
In Rom erreichte P. Samir nun mehr Priester und Theologen aus den arabischen Ländern als in Beirut, Damaskus oder Kairo. Er gab ihnen die Kenntnisse und das stolze Bewusstsein mit, dass die Christen im Laufe der Jahrhunderte Maßgebliches zur arabischen Kultur und Geistesgeschichte beigetragen haben. Und seine Studenten gaben diese Erkenntnisse wieder an ihre Schüler in ihren Heimatländern weiter.
P. Samir ist ein „potenter“ Doktorvater: mehrere arabische Bischöfe, darunter auch der derzeitige chaldäische Patriarch Louis Kardinal Sako, und viele Professoren, Priester und Ordensleute sind seine geistigen und geistlichen Kinder.
Im Jahre 1976 war P. Samir in Paris beim Zweiten Internationalen Kongress für syrische Studien. Auf seinen Vorschlag hin wurde ab jetzt ein regelmäßiges Treffen der Wissenschaftler für die arabisch-christliche Literatur organisiert und gleich ein erster Minikongress abgehalten, der von nun an immer parallel zur Syrologentagung abgehalten werden sollte. Das geht bis heute so. Alle vier Jahre trifft man sich an einer anderen Universität. Gleichzeitig wurde P. Samirs Idee, eine Fachzeitschrift zu gründen, umgesetzt.
P. Samir zu treffen ist nie ganz „ungefährlich“, denn ihm fällt immer etwas ein. So geschah es auch 1980 mit dem melkitischen Bischof aus Aleppo Neophytos Edelby in Rom. Er traf ihn im P.I.O. und fragte P. Samir, worüber er forsche. Dieser überflutete ihn mit seinem gewinnenden Wissen über die christlich-arabischen Autoren und mit ein paar seiner Artikel. Der Bischof wurde immer interessierter. Anderntags wurde nebenbei bei einer Pizza eine Buchreihe auf Arabisch, Englisch und Italienisch mit dem Titel „Arabisch-christliches Erbe“ begründet, für die der Bischof – solange er lebte – fortan die Gelder beschaffte. Inzwischen ist das ein Weltprojekt geworden. Über 30 Bände sind bereits erschienen.
Für P. Samir kam dann 1987 ein weiterer Aufbruch ins Ungewisse. Der Orden rief ihn in den Libanon, wo immer noch der Bürgerkrieg im Gange war. Dazu sagte er rückblickend: „Es war schlimm für mich, alles, was ich in Rom aufgebaut hatte, zurück zu lassen … Der Provinzial suchte Unterstützung für den Aufbau eines Zentrums für christlich-arabische Studien (CEDRAC). Er wollte gerade in dieser Situation zeigen, dass die Christen genauso Araber sind wie die Muslime“. Erleichtert durfte P. Samir erfahren, dass er Rom und das P.I.O. nicht aufgeben musste, sondern jetzt vielmehr zu einem authentischen Brückenbauer zwischen den westlichen und arabischen Christen werden konnte.
Im Jahre 1990 ging er mit einem Stipendium für ein Jahr nach Birmingham. Dort begründete er ein Forschungsprojekt über den christlichen Orient und die „Mingana-Konferenzen“ zu Ehren des chaldäischen Theologen und Orientalisten Alphonse Mingana.
Gott sei Dank war 1991 im Libanon der Krieg vorüber, jetzt konnte er endlich von den Bergen bei Beirut, wo die Jesuiten wegen des Krieges wohnten, wieder nach Beirut ziehen und verstärkt an seinem „CEDRAC“, dem Forschungs- und Dokumentationszentrum für arabisches Christentum, arbeiten. Dieses Zentrum steht ganz in der Tradition von Georg Graf und dessen Lehrer P. Louis Cheiko, einem Jesuiten aus dem Irak. Hier werden Seminare und Konferenzen abgehalten und Publikationen veröffentlicht. Jungen Wissenschaftlern stehen eine umfangreiche Bibliothek, Multimedia und Dokumente von ca. 30.000 Einheiten über Philosophie und Religion des christlichen und islamischen Orients zur Verfügung. Zunächst erhielt P. Samir im Jesuitenhaus ein paar Räumlichkeiten und eine Angestellten. 1996 wurde die Einrichtung der St. Josephs-Universität angegliedert, wo P. Samir auch lehrte. Die Bibliothek wurde schließlich erweitert und neue Mitarbeiter wurden eingestellt. P. Samir sammelt und sammelt und sammelt bis heute alles, was mit dem Christentum im Orient zu tun hat, und das CEDRAC wächst weiter.
Ein weiterer großer Schwerpunkt seiner Arbeit, der viel Zeit beansprucht, ist der Dialog mit dem Islam: lokale und weltweite Rundfunk- und Fernsehsendungen mit telefonischen Zuschaltungen von Zuhörern und Zuschauern, Interviews, Dialogrunden, Vorträge, Veröffentlichungen, denn P. Samir ist ein weltweit angefragter Berater und Dialogpartner. Dabei betont er immer wieder: Im Dialog ist alles zu benennen, was wichtig ist, auch die unangenehmen Wahrheiten. Aber auch den positiven Aspekten am Gesprächspartner und dessen Wertschätzung muss man Ausdruck verleihen, denn „ein Kampf ist kein Dialog mehr.“
Die jeweiligen Präsidenten des Päpstlichen Rates für den Interreligiösen Dialog in Rom haben seinen Rat gesucht. Mit dem jüngst verstorbenen Kardinal Tauran war P. Samir regelmäßig in Kontakt, genauso mit verschiedenen Muslimvertretern. Er sagt: „Man lernt so im Dialog zu denken, ohne faule Kompromisse. Wir suchen das Gemeinsame. Und das, was uns trennt, benennen wir auch.“ Dabei seien aber die theologischen Themen nicht das Wichtigste, sondern es gehe vor allem darum, was beide Seiten leisten könnten, um die Gesellschaft und die derzeitige Situation im Miteinander zu verbessern. Weiterhin ist P. Samir als Professor am P.I.O. in Rom, in Paris, sowie am Maqasid Institute, Beirut, tätig, wo er – einmalig in der Welt – auszubildende Imame über das Christentum unterrichtet, und an der St. Josefs-Universität, Beirut, wo er christliche Theologen muslimische Themen lehrt. Seine Gastprofessuren waren an den Universitäten Graz, Tokio, an der Al-Azhar-Universität in Kairo, sowie an der Georgetown University und am Zentrum für muslimisch-christliche Verständigung in Washington, D. C. Während einer schwierigen Übergangsphase am P.I.O., Rom, hat der Jesuitenorden P. Samir als Mann des Ausgleichs, der Verständigung und Versöhnung sogar von April bis August 2015 zum Pro-Rektor des P.I.O. berufen.
Würdigung einiger Schwerpunkte des Lebenswerkes von Prof.Khalil Samir S.J.
Lieber P. Samir, dieser kleine Überblick über Dein Leben und Schaffen zeigt, dass Du durch Deinen Fleiß und Deine Beharrlichkeit wesentlich zur Erforschung der christlich-arabischen Literatur und zur Weitergabe dieser Erkenntnisse beigetragen hast. Die Wissenschaft und Öffentlichkeit verdankt Deinem Schaffen mehr als 60 Werke und mehr als 1.500 Artikel.
Durch Dein Wissen, Deine Klarheit und wissenschaftliche Redlichkeit, Deine herzliche und charmante Art, Deine Barmherzigkeit und Menschenfreundlichkeit, konntest Du wie kein anderer über alle Konfessions- und Religionsgrenzen hinweg vor allem den Christen des Orients ihr Identitäts-, Geschichts- und Selbstbewusstsein zurückgeben, was gerade in dieser Zeit der Bedrängnis für sie so nötig ist. Du hast uns allen die kulturelle Rolle der Christen in der arabischen Welt in Geschichte und Gegenwart sowohl durch Deine Vorträge als auch durch Deine Veröffentlichungen aufgezeigt.
Lieber P. Samir, es ist Dein Verdienst, dass Du glaubwürdig nachgewiesen hast und nicht müde wirst, immer wieder zu betonen, dass vor allem die syrischen Christen längst vor dem Islam das hellenistische Erbe übernommen und es dann in die erst entstehende islamische Welt hineintransformiert haben.
Bereits lange vor der islamischen Eroberung durch die islamischen Beduinenstämme hat das historische Syrien (Syria maior), Mesopotamien und Ägypten große christlich-kulturelle Zentren mit Schulen unterhalten. Dort wurden Naturwissenschaften (z.B. Medizin), Recht, Philosophie und Theologie gelehrt. Man kam von weit her, um in Alexandrien, Beirut, Antiochien, Bagdad, Edessa oder Nisibis zu studieren.
Das Griechische war die damalige koinè, die Umgangssprache der Gebildeten, dazu kam dann das Syrische, das Koptische bzw. das Persische. Vom 5. bis 7. Jh. beginnt eine große Übersetzertätigkeit der griechischen Werke ins Syrische. Es wurden z.B. alle medizinischen und naturwissenschaftlichen Texte von Hippokrates, Galen, Aristoteles aber auch andere philosophische Werke übersetzt. Unter den Übersetzern waren bedeutende Patriarchen und Bischöfe, die die Weitergabe des hellenistischen Erbes ins Syrische vorantrieben.
Da es hier und jetzt nicht möglich ist, das Verdienst der arabischen Christen der gesamten Kultur- und Geistesgeschichte des christlichen Mittleren und Nahen Ostens ausreichend auszuführen, so darf doch aufgrund all Deiner Forschungen und Veröffentlichungen zusammenfassend festgehalten werden:
Die hellenistische Kultur, die im Mittelalter via arabischer und persischer Literatur zu uns nach Europa kam, wurde von den Christen vermittelt. Unter ihrer Federführung ist im 9./10. Jh. bereits eine Weltkultur arabischer Zunge entstanden, während das Abendland dazu erst langsam erwachte. In allen Hauptstädten der muslimischen Welt verbreitete sich damals eine gemeinsame Kultur, die wir als interkonfessionell/interreligiös verstehen dürfen, denn sie ist vor allem das Werk der verschiedenen christlichen und religiösen Gemeinschaften von Untertanen des muslimischen Reiches.
Lieber P. Samir, Du bist einer der ganz großen Multiplikatoren des Christlichen Ostens, der als ausgezeichneter „Networker“ Wesentliches zur Bündelung des Detailwissens der Fachwelt beigetragen hat. Dankbar und bescheiden möchte ich als einer Deiner vielen Studenten sagen: Es ist mir eine große Ehre, dass ich Dich kennenlernen durfte, dass Du mich bis heute immer freundschaftlich und mitbrüderlich angenommen und behandelt hast: Vergelt’s Gott!
Lebens- und Wissenserfahrung für uns heute
Unser Preisträger ist jemand, der auch weltkirchlich geachtet und gehört wird. Er ist Konsultor im Vatikan und Papst Benedikt XVI. hat ihn, wie erwähnt, bei der Sondersynode zum Nahen Osten vom 10. bis 24. Oktober 2010 in Rom engagiert. P. Samir hat dabei maßgeblich an der Erstellung der „Lineamenta“ und am „Instrumentum Laboris“ für diese Bischofssynode mitgearbeitet. Diese Dokumente stellen einen weltweit vernommenen Beitrag von historischer Tragweite zur Klärung der Rolle der Christen am Vorabend der „Arabellion“ dar. In den Kapiteln D. bis F. der „Lineamenta“ zeigt sich ganz klar, auf Wunsch von Papst Benedikt XVI., die geistige Handschrift von P. Samir: D. Beziehungen zu den Muslimen. E. der Beitrag der Christen für die Gesellschaft. F. Fazit: Die spezifischen und unersetzlichen Beiträge der Christen in diesen Ländern. Und der jetzige Papst Franziskus, so scheint es, ist gerade dabei, von P. Samir nach und nach zu lernen. Rückblickend darf angemerkt werden: Wie klug war doch die Anweisung des Ordensgenerals P. Arrupe 1973 an P. Samir: „Gehen Sie zum Studium der arabisch-christlichen Literatur. Fangen Sie jetzt damit an, damit ihr Wissen in 50 Jahren genutzt werden kann!“ Es hat keine 50 Jahre gedauert, und wir dürfen bereits seit geraumer Zeit dieses Wissen, den Segen Deines Lebens, nutzen.
Lieber P. Samir, was Dich bei Deinen vielen genialen Fähigkeiten noch auszeichnet, ist Deine Furchtlosigkeit und Deine Klarheit. Bei all Deinem Charme bleibst Du wahr und verbiegst Dich nicht, sondern Du zeigst argumentativ Deinen christlichen Standpunkt auf. Ganz freimütig und in aller Form sagst Du Deine Meinung, sei es in der Beurteilung von Äußerungen aus dem Vatikan oder aus der Politik.
Dein Blick in die Geschichte und Gegenwart ist, was den Islam betrifft, nüchtern und deutlich: Der Islam ist mit Krieg und Eroberungen verbreitet worden. Die muslimische Welt befindet sich in einer bereits jahrzehntelangen Krise. Die Revolutionsbewegungen des sogenannten „Arabischen Frühlings“ haben Regierungsumstürze, chaotische Bürgerkriege und neue katastrophale Machtverhältnisse gebracht. Diese Auseinandersetzungen haben mittlerweile eine neue Dimension der Gewalt erreicht, da die Konflikte sich in einen überaus brutalen Terrorismus verwandelt haben, wie wir ihn gerade erleben. Dies übertrifft alle früheren Krisen des Islam, da jetzt vor allem unschuldige Menschen absichtlich angegriffen werden. Es spielt sich ein inner-islamischer Machtkampf und Krieg ab, der noch lange nicht ausgestanden ist, denn die Islamisten wollen alle anderen Moslems und die „Ungläubigen“ islamisieren. Diese gefährliche Mischung von Politik und unaufgeklärter Religion war und ist ein Irrtum und ein großes Unrecht. Wörtlich: „Wir haben jetzt die grausamste Bestialität in der Geschichte des Islam erreicht. Wir waren noch nie an einem solchen Punkt der Barbarei“. In einem Gespräch mit „Radio Vatikan“ sagtest Du dazu: Notwendig seien jetzt endlich entschlossene Stellungnahmen der Imame und des islamischen Volkes.
Auf die Frage: „Ist das Verhalten des IS der Islam? Oder ist das eine Abweichung?“, antwortest Du: „Sicher liegt der Ausgangspunkt der heutigen Entwicklung auch in der islamischen Tradition.“ Die Rede von den „Ungläubigen“ sei im Islam ja nichts Neues. Sie werde von den Jihadisten aber heute machtpolitisch bestialisch missbraucht. Die Extremisierung geschehe dort, wo der Glaubensgrundsatz „Wer nicht dem authentischen Islam angehört, muss entfernt werden“ brutal in Realpolitik umgesetzt wird. Dies sei „eine der größten Plagen des modernen Islam“. Der Traum von einem islamischen „Gottesstaat“, den die Jihadisten jetzt länderübergreifend verwirklichen wollen, sei ein Irrweg, der auch in der islamischen Welt auf Kritik stoße, so Deine Ausfürhungen. Und wörtlich: „Die großen islamischen Denker sind gegen diese Auslegung des Islam. Das Drama ist, dass auch diese gebildeten Muslime es kaum wagen, Selbstkritik zu üben, sondern schweigen“.
Lieber P. Samir, Du beurteilst in diesem Zusammenhang auch ganz klar die Politik der Großmächte, die auf fremden Territorien ihre Stellvertreterkriege führen, die große Waffenverkäufe tätigen und die aus ökonomischen Gründen ein Land wie Saudi-Arabien als engen Verbündeten hofieren.
Du mahnst mit Recht an, dass wir im Westen unsere Politik der Hilfsorganisationen hinsichtlich Bildung und Entwicklungshilfe neu überdenken und gezielt verstärken müssen. Es zeigt sich doch in allen diesen Konflikten immer wieder, dass Armut und Unkenntnis einer Instrumentalisierung religiöser Dogmen und einer Fanatisierung Vorschub leisten.
Aus den Ergebnissen der Auseinandersetzungen im Irak, in Afghanistan, in Syrien und in all diesen Krisenregionen sollten wir endlich verstehen, dass unsere Demokratiekonzepte hier noch lange nicht greifen. Hierzu braucht es, wie Du sagst, einen Prozess der religiös-politischen Reifung innerhalb des Islam, eine „universalistische Sichtweise“, in der die Menschenrechte von der islamischen Mehrheit als schützenswert erkannt und verteidigt würden. Die breite Masse müsse jetzt erst einmal klar gegen Fanatismus und Gewalt Position beziehen.
Es ist höchste Zeit, dass zumindest die gebildete moslemische Welt einmal auch deutlich zu den Verdiensten der christlichen Urbevölkerung ihrer Länder, in denen sie mittlerweile zur Minderheit reduziert wurde, und zum angestammten Lebensrecht der Christen in ihren Ländern äußern. Einen kleinen bemerkenswerten Versuch gab es neulich:
Scheich Abdel Latif Darian, Mufti der Republik Libanon (Vertreter der Sunniten), sagte während der Abschlussfeier am Ende dieses Schuljahres (Juli 2018) vor mehr als 350 Schülern der privaten islamischen Makased-Schulen, es werde nicht mehr derselbe Nahe Osten sein, wenn der Exodus der Christen in den Ländern des Mittleren Ostens weiterhin zu einem Schwinden derjenigen beiträgt, die den Namen Christi tragen. „Mit den Christen leben wir im selben Land, wir teilen die Luft und das tägliche Brot. Wir haben dasselbe Schicksal: unsere Zukunft wird dieselbe sein oder wir werden keine Zukunft haben“.
Lieber P. Samir, Dein ganzer Lebensweg als Priester, Lehrer, Forscher, Dein ganzes Lebenswerk mit all den schriftlichen und mündlichen Aussagen ruft uns als Christen im freien Westen, aber auch allen gläubigen Menschen guten Willens überzeugend zu: Achtet auf die Menschenrechte, auf die Religionsfreiheit, sie ist ein unaufgebbares Grundrecht. Sie ist der „Lackmustest“ für alle anderen Freiheiten. Ein globaler Friede ohne Frieden zwischen den Religionen ist nicht möglich. Vergesst die Christen und ihre Verdienste im Nahen und Mittleren Osten nicht! Tretet vernehmlich für Sie ein! Wie lange wollt ihr noch schweigen? Steht auf und tretet für die ein, die euere Hand, eure Stimme und euere Herzen brauchen! Es darf im Namen Gottes keine Gewalt mehr geben!
Lieber P. Samir, der Herrgott vergelte Dir alles 30-, 60- und 100fach, was Du an Gutem getan hast. Er möge Dich noch viele Jahre glücklich und zufrieden erhalten und behüten!
Archimandrit Dr. Andreas-A. Thiermeyer